Unterwegs auf den Kalvarienberg Teil 2 (mit Bildern des Kalvarienberges von Lockenhaus)
Achte Station
Ehe er nun zum letzten Mal auf den Berg
steigt,
hebt Jesus seinen Finger und wendet sich zu
dem Volk, das ihn begleitet:
ein paar arme Frauen in Tränen, mit ihren
Kindern auf dem Arm.
Und wir, wir wollen Jesus nicht nur anschauen,
wir wollen ihn hören, nun er da ist.
Es ist ja nicht ein Mensch, der seinen Finger
inmitten dieser armen, bunten Zeichnung
erhebt,
es ist unser Gott, und nicht nur im Bilde hat
er um unseres Heiles willen gelitten.
Es ist wirklich wahr, dieser Mensch war der
allmächtige Gott!
Es gab tatsächlich einen Tag, da Gott dies für
uns gelitten hat! –
Was für eine Gefahr ist es denn, von der wir
um einen solchen Preis losgekauft wurden?
Ist das Heil des Menschen so selbstverständlich,
daß der Sohn,
um es zu vollbringen, sich aus dem Schoße des
Vaters losreißen muß?
Wenn es so um das Paradiese bestellt ist, was
ist es dann um die Hölle?
Was wird man mit dem dürren Holze tun,
wenn man dies mit dem grünen tut?
Neunte Station
Ich bin noch einmal gefallen, und diesmal
ist es endgültig aus.
Selbst wenn ich mich erheben wollte, es gäbe
keine Möglichkeit mehr.
Denn man hat mich ausgepresst wie eine Frucht,
und der Mensch, den ich auf dem Rücken
trage, ist zu schwer!
Ich habe das Böse getan, und der tote Mann
auf mir ist zu schwer!
Laßt mich also sterben, denn leichter ist es, auf
dem flachen Bauch zu liegen als aufrecht zu
stehen,
leichter zu sterben als zu leben, leichter a u f
dem Kreuz zu sein als darunter. –
Rette uns vor der dritten Sünde, der
Verzweiflung! –
Denn nichts ist verloren, so lange der Tod noch
zu trinken bleibt!
Mit diesem Holze bin ich fertig geworden, aber
Es bleibt noch das Eisen übrig! –
Jesus fällt zum dritten Male, diesmal auf dem
Gipfel des Kalvarienberges.
Zehnte Station
Da ist nun die Tenne, wo der himmlische
Weizen geschrotet wird.
Der Vater ist entblößt, der Schleier des
Tabernakels ist weggerissen.
Die Hand ist an Gott gelegt, das Fleisch des
Fleisches erzittert.
In seinem Grunde bedroht, erbebt das Weltall
bis in seine innersten Eingeweide!
Wir aber wollen, da man ihm das Gewand
und den Rock ohne Naht genommen hat,
unsere Augen erheben, wollen es wagen, Jesus,
den ganz Reinen, zu betrachten.
Nichts haben sie Dir gelassen, Herr, alles haben
sie dir genommen,
sogar das Kleid, das am Fleische klebt, so wie
sie heutzutage
dem Mönch seine Kutte entreißen und der
gottgeweihten Jungfrau ihren Schleier.
Alles haben sie ihm genommen, es bleibt ihm
nichts mehr, sich zu bergen,
nichts, um sich zu verteidigen. Nackt wie ein
Wurm
ist er allen Menschen ausgeliefert und zur Schau
gestellt …
Was, das ist euer Jesus? Er reizt ja zum
Lachen! Er ist bedeckt von Schlägen und Unrat,
er gehört zu den Verrückten und ins
Polizeigewahrsam.
Tauri pingues obsiderunt me. Libera me,
Domine, de ore canis.[1]
Er ist nicht der Christus. Er ist nicht der Sohn
des Menschen. Er ist nicht Gott.
Sein Evangelium ist Lüge, und sein Vater ist
nicht im Himmel.
Er ist ein Narr! Ein Betrüger! Heißt ihn doch
reden! Heißt ihn doch schweigen!
Der Knecht des Annas gibt ihm einen
Backenstreich, und Renan[2] küsst ihn …
Sie haben alles genommen. Aber es bleibt die
aufbrechende Wunde.
Gott ist verborgen. Aber es bleibt der Mann
der Schmerzen.
Gott ist verborgen. Es bleibt mein Bruder
voller Tränen. –
Durch deine Verdemütigung, Herr, durch deine
Schmach,
habe Mitleid mit dem Besiegten, mit dem
Schwachen, den der Starke überwältigt.
Durch die Schauerlichkeit dieses letzten Kleides,
das man dir entrissen,
habe Mitleid mit allen, die man zerreißt:
mit dem dreimal operierten Kinde, dem der Arzt
Mut zuspricht,
mit jenem armen Verwundeten, dessen Verband
man erneuert,
mit dem gedemütigten Gatten, mit dem Sohn
neben seiner sterbenden Mutter
und mit dieser furchtbaren Liebe, die wir uns
aus dem Herzen reißen müssen.
Elfte Station
Nun ist es soweit gekommen: Gott ist nicht
mehr bei uns. Er liegt auf der Erde.
Wie einen Hirsch hat ihn die Meute in dichten
Haufen an der Kehle gepackt. –
Du bist also gekommen, du bist wirklich einer
von uns geworden, Herr!
Man hat sich auf dich gesetzt, man presst dir die
Knie auf das Herz.
Diese Rechte, die der Henker verdreht, ist die
Rechte des Allmächtigen.
Man hat das Lamm an den Füßen gefesselt,
man bindet den Allgegenwärtigen an.
Man bezeichnet auf dem Kreuz mit Kreide seine
Höhe und sein Maß.
Und wenn er von unsern Nägeln gekostet,
werden wir sein Gesicht sehen!
Ewiger Sohn, durch seine Unendlichkeit allein
umgrenzt –
da ist er nun der armselige Erdenfleck, den du
bei uns begehrt hast.
Siehe da, Elias, der Länge nach auf dem Toten
ausgestreckt!
Siehe da, Davids Thron und der Ruhm
Salomons!
Siehe da, unserer Liebe Bett mit dir, gewaltig
und hart!
Schwer ist es für einen Gott, sich anzupassen
unserm Maß.
Man zerrt, und halb aus den Gelenken gerissen,
kracht der Körper und schreit.
Er ist gespannt wie eine Kelter, schauerlich ist
er zurechtgehauen.
Damit der Prophet gerechtfertigt würde, der es
so vorausgesagt hat:
„Sie haben seine Hände und Füße durchbohrt,
sie haben gezählt alle seine Gebeine.“ –
Du bist gefangen, Herr, und kannst nicht mehr
entweichen.
Du bist auf das Kreuz enagelt an Händen und
Füßen.
Ich habe nichts mehr im Himmel zu suchen mit
Ketzern und Narren.
Dieser Gott ist mir genug, der da von vier
Nägeln eingeschlossen ist.[3]
Zwölfte Station
Wohl hat er eben noch gelitten, jetzt aber
wird er sterben.
Leise bewegt sich das große Kreuz in der Nacht:
ein Gott atmet darauf.
Alles ist da. Laßt nur das Werkzeug wirken,
das durch die Verbindung der zwei Naturen
unerschöpflich,
aus dem Born der Seele und des Leibes und
der hypostatischen Vereinigung herauspresst
und herauszieht,
was nur an Leidensfähigkeit in ihm ist.
Er ist ganz allein wie Adam, als der im
Paradiese war.
Für drei Stunden ist er allein und kostet, von
Gott verlassen, den Wein:
die unüberwindliche Unwissenheit der
Menschen.
Er sinkt in sich zusammen, unser Gast; seine
Stirn neigt sich nach und nach.
Er sieht seine Mutter nicht mehr, und sein
Vater verläßt ihn.
Er kostet den Kelch, langsam vergiftet ihn der
Tod. –
Hattest du denn nicht genug an diesem bittern,
mit Wasser gemischten Wein,
daß du plötzlich dich aufrichtest und rufst: Sitio,
mich dürstet?
Du hast Durst, o Herr? Bin ich es, zu dem du
sprichst?
Hast du mich denn noch nötig und meine
Sünden?
Fehle ich dir noch, bis alles vollbracht ist?
Dreizehnte Station
Hier geht das Leiden zu Ende, es schließt sich
an das Mit-Leiden.
Christus ist nicht mehr auf dem Kreuz, er ist bei
Maria, die ihn empfangen hat.
Wie sie ihn angenommen hat, als er ihr
verheißen ward, so empfängt sie ihn, da er
vollbracht hat.
Vor den Augen aller hat Christus gelitten, jetzt
ist er aufs neue im Schoße seiner Mutter
verborgen.
Für immer birgt die Kirche den Vielgeliebten
in den Armen.
Was Gottes, was der Mutter ist, und was der
Mensch getan –
all das umhüllt sie für immer mit ihrem
Mantel.
Sie hat ihn genommen, sie schaut, sie tastet, sie
betet, sie weint, sie bewundert!
Sie ist das Leichentuch und der Balsam, sie ist
die Begräbnisstätte und die Myrrhe,
sie ist der Priester und der Altar, das Gefäß
und der Abendmahlssaal.
Hier endet das Kreuz, der Tabernakel beginnt.
Vierzehnte Station
Das Grab, darin man Christus gelegt, der
ausgelitten hat und gestorben ist,
das Loch, eilig für ihn entsiegelt, damit er seine
Nacht dort schlafe,
ehe er als Durchbohrter auferstehe und zum
Vater aufsteige –
Das ist nicht nur ein neues Grab, es ist mein
Fleisch,
es ist dein Geschöpf, der Mensch, der tiefer ist
als die Erde!
Jetzt, da sein Herz offen steht, da seine Hände
durchbohrt sind,
gibt es kein Kreuz mehr bei uns, auf das sein
Leib nicht paßt,
gibt es keine Sünde mehr in uns, der nicht eine
Wunde entspricht!
Komm also zu uns von dem Altar, wo du
verborgen bist, Erlöser der Welt!
O Herr, wie steht dir dein Geschöpf nun offen,
wie ward es abgrundtief!
[1] Die fetten Stiere belagern mich, rette mich, Herr, vor dem Rachen des Hundes. Ps 21,13)
[2] Anm. der Übersetzerin: „Der Name Renans steht hier als Beispiel für jene, die vorgeben, Jesus zu ehren, in Wirklichkeit ihm aber die Krone der Gottheit und damit in Wahrheit auch die Krone seiner Menschheit rauben. Es wäre uns nicht schwer, andere Namen an diese Stelle zu setzen.“
[3] Anm. Claudels: „Dies richtet sich gegen die Leute, die den Himmel mit ihren Einbildungen bevölkern. Ich glaube nur an einen Gott, der zu unserer Betrachtung genau angeheftet ist an vier Nägel, so wie man eine amtliche Bekanntmachung anheftet oder eine Landkarte.“
Herkunft: Der Kreuzweg von Paul Claudel
(Übertragen von Klara Marie Fassbinder)